Ich hinke etwas meinem Zeitplan hinterher. Wir haben heute Nikolaustag, also den 6. Dezember, und ich schreibe diesen Artikel mit drei Monaten Verspätung. Doch das sollte mich nicht davon abhalten zu schreiben und euch nicht davon abbringen zu lesen. Sparschwein, Wort des Monats Oktober 2021. Ich bin gespannt, wo mich dieses Wort abholt und wo die Reise hingehen wird. Wie immer eine unlektorierte Schreibübung.
Sparschwein
Rolf hat die Wahl. Entweder das Schwein schlachten und ausbeuten um sich einen schönen Tag machen, oder seiner verstorbenen Mutter den letzten Wunsch erfüllen. Dafür müsste er allerdings weit über seine Grenzen hinaus gehen und die sichere Umgebung verlassen. Die Asche seiner Mutter verwahrte Rolf in einem kleinen Regal in einer schwarzen Urne. Daneben ein hübsches Foto seiner Mutter Irmgard, aus vergangen Tagen. So hatte er sie immer im Blick. Ihm gab es ein Gefühl der Sicherheit. Fast so, als würde sie über ihn wachen. Nun musste er sich entscheiden. Mutters Wunsch, ihre Asche auf der Ostsee zu verstreuen, sodass sie der Wind über eine weite Fläche tragen würde, oder sich in der Kneipe an der Ecke ein Steak mit Bratkartoffeln, ein paar Kurze und etliche Biere gönnen. Schließlich war es sein Erspartes, das im Bauch des blauen Keramischweins wartete. Er saß im Lieblingssessel seiner Mutter und starrte ihr Bild an. Fast so, als würde sie ihm seine Entscheidung abnehmen können. Doch das dieser Fall nicht eintreten würde, wusste er selbst. Die Trauer saß noch tief in seiner Seele und würde wohl für immer in seiner körperlichen Hülle gefangen sein. Es fiel ihm mit jedem Tag schwerer, weshalb er sich seit seiner Abstinenz zum ersten Mal mit einer schwierigen Situation konfrontiert sah, bei der er sich nicht sofort mit Alkohol betäubte. Dennoch beschäftigte er sich schon seit ein paar Tagen damit, sich für etwas entscheiden zu müssen. Der Alkohol raubte ihn seine Frau und die Zwillinge. Das Gericht untersagte ihm den Kontakt. Alkohol machte ein Monster aus Rolf. Aggression und Gewalt, die mit jedem Schluck schlimmer wurden. Bis er an einem Punkt angelangt war, wo er seine Taten nicht mehr steuern konnte. Ein falscher Blick und die Faust im Gesicht war seinem Gegenüber sicher. Beim letzten Mal war sein Gegenüber Petra, seine Ehefrau. Seitdem wohnte Rolf bei seiner Mutter, die ihn unter der Bedingung aufnahm, dass er einen Entzug machen musste und keinen Alkohol mehr trinken darf. Ein Verstoß dagegen hätte Irmgard nicht davon abgehalten ihn vor die Tür zu setzen, bis er wieder zur Vernunft gekommen wäre. Das wusste er und er hielt sich strikt daran. Doch nun war er allein. Keine Freunde, Familie oder sonst wem, der ihn bei seiner Entscheidung helfen würde. Bei einem Online-Radiosender war Rolf häufig im Chat und tauschte sich mit anderen Hörern über dieses und jenes aus. Vielleicht gab es dort jemanden, der Ähnliches durchmachte oder schon durchgemacht hat. Jedenfalls erschien es Rolf besser, als hier stumm herumzusitzen und sich selbst zu bedauern. Also schaltete er den Computer und den Bildschirm ein, die ihm seine Mutter besorgt hatte, damit er Bewerbungen schreiben konnte, um eines Tages wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Und nur kurze Zeit später betrat er den virtuellen Raum des regionalen Online-Radiosenders.
Während er der Musik aus den blechern klingenden Lautsprecher lauschte, kamen und gingen die User. Es vergingen Minuten, dann Stunden, bis die Dunkelheit einsetzte und der Monitor als einzige Lichtquelle den Raum mit blassem Licht erfüllte. Rolf wollte gerade den Chatraum verlassen, als plötzlich eine Nachricht von Angel1664 im Chatverlauf erschien, die an ihn persönlich gerichtet war.
»Rolf, du wirst dich entscheiden müssen. Wählst du den falschen Weg, wirst du alleine bleiben. Wählst du den richtigen Weg, wirst du wieder Glück und Frieden erfahren können. Wähle Weise, denn nur du kannst entscheiden, welcher der richtige Weg sein wird.«
Er traute seinen Augen nicht und las diese Nachricht immer wieder von vorn. Mittlerweile war nur noch er im Chat. Kein Angel1664, keine bekannten, mit denen er sonst immer geschrieben hatte. Als wäre jemand im Chat, der sich unsichtbar machen konnte. Das wäre für jemanden, der sich mit dem Ganzen gut auskennt bestimmt kein Problem. Doch gab es niemanden in Rolf seinem Leben, der ihn kannte oder von seinen aktuellen Problemen wissen konnte. Die Uhr zeigte, dass es bereits nach Mitternacht war. Rolf schaltete die Elektronik aus und ging ins Bett. Er schlief schnell ein.
Am nächsten Morgen, war Rolf schon sehr früh auf den Beinen. Er saß im Sessel, sah sich das Foto seiner Mutter an und trank Kaffee. Endlich verspürte er eine Erleichterung, als er den Entschluss fasste, den letzten Wunsch seiner geliebten Mutter zu erfüllen. Er nahm das schwere Schwein aus Keramik, packte die Urne ein und kaufte sich ein Busticket an die Ostsee. Noch am selben Tag ging er in den Niendorfer Hafen. Dort traf er einen Fischer, der gerade dabei war sein Boot zu reinigen. Er fragte den Fischer, ob er ihm helfen würde, den Wunsch seiner Mutter zu erfüllen. Doch der schickte Rolf weg. Niedergeschlagen setzte er sich auf eine Bank und blickte auf die See hinaus. Die Sonne war angenehm warm und der Himmel hatte das schönste Blau, das Rolf jemals gesehen hatte. Plötzlich hörte Rolf eine Stimme, direkt neben ihm. Es war wieder der Fischer.
»Hast du Geld?«, fragte er.
»Nur mein Sparschwein. Hauptsächlich Kupfergeld.«
»Dein Sparschwein als Bezahlung. Dann helfe ich dir.«
»Danke.«
Rolf übergab das blaue Sparschwein an den Fischer und die beiden fuhren hinaus auf die See. Der Fischer hielt an einer bestimmten Stelle an. Er erklärte Rolf, dass an dieser Position immer die Seebestattungen stattfinden. Rolf zögerte nicht lang und hielt aus dem Stegreif eine kurze Rede, in der er sich bei seiner Mutter für alles bedankte, was sie jemals für ihn getan hatte und verstreute die Asche aus der Urne. Als sie wieder im Niendorfer Hafen anlegten, gab der Fischer Rolf das Sparschwein zurück. Er sollte es als Geld für einen Neustart verwenden, sagte er ihm. Rolf bedankte sich dafür. Als er sich vom Fischer entfernte, drehte er sich noch ein letztes Mal um und sah den Namen des Fischerbootes: Angel1664.
ENDE
Schlusswort
Ich habe am Anfang nicht erwartet, dass ich eine kleine Geschichte zu einem alltäglichen Thema schreiben werde. Trauer ist ein Oberbegriff, der von jedem Menschen anders interpretiert wird. Die einen verkriechen sich und weinen sich die Augen aus, die anderen sind ganz still und wieder andere feiern das Leben des Verstorbenen. Doch die Welt dreht sich immer weiter.